Es ist die Passionszeit, die mich jedes Jahr aufs Neue in trübe Gedanken zwingt.
Die werden ausgelöst durch die Texte und die Musik des berühmten
Thomaskantors Johann Sebastian Bach, wo die Fragwürdigkeit menschlichen
Denkens und Handelns in seiner Matthäuspassion in eine ergreifende
musikalische Aussage verdichtet wird. Da steht das Hosianna so unmittelbar
neben dem Kreuzige, und beide Texte werden von dem gleichen Chor
gesungen, was besagt: von den gleichen Menschen verkörpert.

Heute ist der erste wirkliche Sonnentag nach stürmischen, kalten, verregneten,
trüben Wochen. Ich habe meine Verandatür zum ersten Mal in diesem Jahr
geöffnet, sitze in der prallen Sonne mit geschlossenen Augen und höre die _
Johannespassion, nicht die von Johann Sebastian, sondern die von dem ebenfalls Leipziger Johannes Weyrauch, mit dem ich einst befreundet war.

Da drängt sich mitten in den in mir kreisenden Gedankenwirbel – ein Satz, voller
Naivität, aber ebenso voller Trost: Die Sonne geht immer wieder früh im Osten
auf und am Abend im Westen unter, egal was wir Menschen mit uns und mit
der Natur, in der wir leben und für die wir eigentlich Verantwortung tragen“
müssten, “anstellen. Dazu kommt der zweite Gedanke hinterher: Jetzt geht die
Sonne schon weiter rechts hinter der großen Weide unter. Also das Jahr 2020
ist‘schon ganz schön vorangeschritten und lässt sich dabei durch nichts und von
niemandem aufhalten.

Und ich spüre, dass ich längst in der Wahrnehmungshaltung gelandet bin, in
der es darum geht, möglichst nichts mehr zu wollen, sondern dasjenige
wahrzunehmen, was ist, was man körperlich spürt, was für Gefühle aufsteigen
und welche Gedanken sich einstellen. Da spüre ich die wärmende Sonne im
Gesicht wie eine Art Uraufführung und wie die wärmenden Strahlen über die Schultern, dann die Brust hinunter gleiten in meinen Schoß, und dann spüre ich
meine kalten Waden und Füße und denke bewusst, die musst du jetzt
hochlegen auf den Sessel, der mir gegenüber steht. Da gleitet das Aufmerken
über in ein ganz tiefes und sehr angenehmes Gefühl, das ich nicht in Worte
bringen kann. Dann ist plötzlich ein Gedanke da, der identisch ist mit dem
vorhandenen Gefühl: Also hat der Coronavirus, der den ganzen menschlichen
Schlamassel in der vernetzten Welt lahmlegt, doch etwas Gutes, denn ich hätte
jetzt diese wunderbare Empfindung, körperlich, seelisch und gedanklich, nicht,
wenn ich — wie Sonnabend um diese Zeit üblich — vor der Flimmerkiste sitzen
würde, um, eingebunden in ein festes Ritual, Fußball zu gucken.

Da spüre ich, dass ich diese Wahrnehmungsmixtur weiter auskosten und
festhalten will. Aber das macht mein Gehirn nicht mit, weil sich ein weiterer
Gedanke nach vorn schiebt, und es denkt in mir: Bilde dir nicht ein,.dass du .
besser und gescheiter bist, als die vielen anderen, denn du hängst ja genauso in
den vielen manipulativen Lebensersatzangeboten und brauchst offenbar auch
so einen Generalstoß, der als Virus derzeit über all die menschlichen Geschäfte
gnadenlos herfällt und alles gleichermaßen lahmlegt. Dann kommt ein
nächster Gedanke gleich nachgeschossen: Erwarte nicht von den Anderen, dass
die sich nun ändern, sondern ändere im Weiteren dich selbst in deinen
Bedürfnissen, falls dir diese Epidemie huldvoll zukünftig dazu noch einmal die Gelegenheit schenken sollte.

Nachtrag:

Vor Kurzem bekam ich einen seitenlangen Brief, als Rundbrief an alle Freunde
und Bekannte adressiert, in dem sogenannte „Gutmenschen“, angesiedelt in
der Nobelgegend „Weißer Hirsch“ in Dresden, sich breit und ausführlich
klagend über all das äußerten, was nun in der Coronazeit nicht möglich ist, man
die geplante Reise in französische Museen und Schlösser nicht antreten könne,
keine Konzerte zu besuchen sind, selbst die Kruzianer nicht singen und die
Enkel nicht, um betreut zu werden und zur eigenen Gemütsergötzung
einfliegen können. Ich schickte ihnen daraufhin neben dem Wunsch, sich
irgendwann einmal wieder sehen zu können, meine Wahrnehmungsgeschichte
aus den nachösterlichen Tagen. Die Reaktion darauf war beleidigtes, eisiges
Schweigen! So unterschiedlich kann man diesen Wach-werde-ruf „Corona”
wahrnehmen, dachte ich und muss befürchten, dass eine Dresdener
Freundschaft wegen Verweigerung zum Mitjammern absterben wird oder
schon gestorben ist.

von
Christoph Schwabe

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